Heiligabend
Was an diesem Tag ist eigentlich genau heilig? stöhnt Charlotte, als sie mit Mühe einem Stapel Geschenke für die Kinder ausweicht, der das ganze elterliche Schlafzimmer in Besitz zu nehmen droht. Im Geiste geht sie zum wiederholten Mal ihre To-Do-Liste durch: Aufräumen. Gänsebraten und Kartoffelknödel zubereiten. Tisch decken. Dafür sorgen, dass alle ein unvergessliches Weihnachtsfest erleben. Wie immer. Die Charlotte, die macht das schon – was ist sie nur für eine wunderbare Gastgeberin! Stets freundlich, gut gelaunt – ganz die perfekte Ehefrau und Mutter.
Den ganzen Vormittag ist sie schon allein in ihrem Häuschen am Stadtrand von Berlin, das Jan für sie beide ausgesucht hatte. Sie erinnert sich noch genau an seine Worte, fünf Jahre müsste das jetzt auf den Tag genau her sein: «Jetzt, wo du schwanger bist, brauchen wir etwas Größeres.»
Sie hat zugestimmt. Vielleicht hat sie in letzter Zeit etwas zu oft ja gesagt. Ja, geh nur vormittags mit den Kindern auf den Weihnachtsmarkt, ich schaffe das hier schon. Ja, laden wir doch Oma Anita und Opa Bernd an Weihnachten zu uns ein. Klar kann dein Bruder David auch kommen. David, der sich hier wie jedes Jahr einnistet, keine Geschenke für die Kinder dabei hat und das ganze Haus durch seine arrogante Art einzunehmen scheint. Sie fröstelt bei dem Gedanken an ihren Schwager…
Ihr Blick bleibt an der roten Küchenuhr hängen, die ihre besten Tage hinter sich hat. Im Grunde bin ich wie diese Küchenuhr, sagt Charlotte laut und erschrickt, als ihre Stimme im leeren Haus hallt. Sie streicht sich mit der Hand über die Stirn, ganz so als könnte sie die Gedanken einfach fortwischen.
Das laute Schrillen der Türglocke holt sie abrupt in die Realität zurück. Ausgeschlossen, dass es schon die Familie ist. Hierhin verirrt sich doch eigentlich keiner – schon gar nicht an Heiligabend, seufzt Charlotte und öffnet langsam die Tür. Völlig verfroren und scheu steht ein kleines Mädchen vor der Tür. In ihrer Hand hält sie eine schmutzige, zerrissene Puppe. Beim Öffnen der Türe reißt das Mädchen vor Schreck ihre Augen auf, ein Ruck geht durch ihren kleinen Körper. Charlotte bemerkt, dass die Kleine sich vor Angst nicht von der Stelle rührt. Der Blick des Kindes hat sie ins Mark getroffen, es ist ihr zumute als ob alle Uhren der Welt stehenblieben. Charlotte kommt es wie eine Ewigkeit vor ehe sie das kleine Geschöpf mit warmer Stimme fragen kann, wer sie sei und woher sie komme. Das Mädchen schaut sie mit ihren dunklen Augen an, aus denen langsam die Schockstarre weicht. Vorsichtig zieht sie ihre Schultern hoch. Es scheint, als ob das Mädchen Charlottes Worte nicht versteht. Vielleicht ist das Kind taub, denkt Charlotte, vielleicht hatte sie sich deshalb so sehr erschreckt, weil sie nicht bemerkte, dass sie an der Türe geklingelt hatte und auch nicht hören konnte, dass die Türe geöffnet wurde. Das kleine Mädchen reißt sie aus ihren Gedanken, es hat sich wohl von seinem Schrecken erholt und bewegt sich langsam auf Charlotte zu. Ein kleines kaltes Händchen berührt Charlottes Hand und ehe sie sich versieht, lässt Charlotte sich von dem Mädchen hinters Haus führen. Vergessen ist der ganze Weihnachtswirbel, die Arbeit, die Hetze und der Unmut, als sie gemeinsam mit dem Kind in der winterlichen Kälte stehend durch ein Fenster in das Wohnzimmer blickt. Wohlige festliche Wärme strahlt ihr entgegen. Es ist ihr, als sehe sie das alles zum ersten Mal an der Hand dieses fremden Mädchens.
Erst die Rufe aus der Ferne holen Charlotte in die Wirklichkeit zurück. Oh je, sie hat ganz und gar ihre Arbeit vergessen. Bestimmt ist der Braten jetzt angebrannt und die Frisur nicht in Ordnung. Aber ist das so wichtig? Sie hatte sich für einen Moment verzaubern lassen und spürte sich dem Leben so sehr viel mehr verbunden. Die Stimmen kommen näher und auch das Kind wird aufgeregt, sie löst ihre kleine Hand aus Charlottes, schaut ihr noch einmal tief in die Augen und bewegt sich in die Richtung aus der die Stimmen kommen. Charlotte ist es, als habe sie etwas wie Glückseligkeit im Blick des Kindes gespürt.
Nach diesem Erlebnis, kann sie doch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und routiniert wie eine alte Küchenuhr ihrer Weihnachtsvorbereitung nachgehen. Nein, heute ist etwas Besonderes geschehen. Ehe sie weiter nachdenkt, rennt sie in Hausschuhen und Küchenschürze dem Mädchen hinterher. Ein paar Meter weiter findet sie das Kind in den Armen einer aufgeregten Mutter, die das Kind wieder und wieder an sich drückt und das Mädchen in einen Schwall von Worten einhüllt, die Charlotte völlig fremd sind. Dann kommt auch ein Mann hinzu, der wohl der Vater des Kindes ist. Auch er nimmt das Kind in den Arm, überglücklich, die Vermisste gefunden zu haben. Erst jetzt nehmen sie Charlotte wahr und das Mädchen lächelt heimlich. Der Mann kommt auf Charlotte zu, streckt seine Hand aus und beginnt in gebrochenem Deutsch sich für die Unannehmlichkeiten mit seiner Tochter zu entschuldigen. Er bedankt sich ebenso herzlich wie überschwänglich. Sie seien erst vor wenigen Tagen in der nahegelegenen Turnhalle untergebracht worden, versucht er Charlotte mit Händen und Füßen zu erklären. Er habe seiner Tochter erzählt, dass die Menschen in Deutschland heute ein besonderes Fest feiern. Seine Tochter wollte wohl sehen, wo das Fest stattfindet und sei davongelaufen. «Entschuldig Sie, entschuldig!» hört Charlotte die Stimme des Vaters.
Wollte Charlotte nicht dafür sorgen, dass alle ein unvergessliches Weihnachtsfest erleben? Wie immer.
Nein, nicht wie immer, diesmal soll es ein ganz besonderes Fest werden.
«Ja» sagt Charlotte und schaut die Flüchtlingsfamilie an «wir feiern heute unser Weihnachtsfest und da kommt immer die ganze Familie zusammen. Heute gehört ihr dazu!» Essen haben sie genug, ein Schlafzimmer voller Geschenke, eine warme Stube und David, ihr Schwager kann ja wieder heimgehen wenn es ihm nicht passt, denkt Charlotte.
„Heiligabend“, 2015 Bild und Geschichte Marion Musch
Der Text entstand im Rahmen des Rowohlt Schreibwettbewerbs
Ich wünsche von Herzen ein besinnliches Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr 2016!
Während der Heiligen Nächte gibt es in meinem Blog jeden Tag ein paar Gedanken zu den Rauhnächten und die Vorstellung eines Bildes: >>> hier <<<